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Klappentext

 

 

Hamburg 1960:

Maria Bachmann lebt mit ihrem Säugling in einer Holzhütte, ohne Strom und fließend Wasser, ohne Unterstützung als ledige Mutter. Als ihr bewusst wird, dass der kleine Michael den nächsten Winter nicht überleben wird, gibt sie ihn in ein Kinderheim und verleugnet fortan seine Existenz.

 

Hamburg 1965:

Das kinderlose Ehepaar Inge und Joachim Müller nimmt den Fünfjährigen als Pflegekind auf. Doch statt einer liebevollen Familie, erwartet den Jungen ein Martyrium. Jahrelang wird er von seiner Pflegemutter psychisch und körperlich misshandelt. Auch vor sexuellen Übergriffen macht sie keinen Halt.

Michael schafft Strategien, zu überleben, seine Würde zu schützen und seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Doch als ihn im Erwachsenenalter seine Vergangenheit einholt, sieht er sich den Dämonen seiner Kindheit gegenüber, denen er sich erneut stellen muss.

 

Dies ist die auf Tatsachen beruhende Geschichte des Autors, seinen traumatischen Erlebnissen und dem jahrelangen Kampf auf der Suche nach seinem Platz im Leben.

 

Taschenbuch 394 Seiten

 

BoD, 25.05.2024

ISBN-10: 

ISBN-13: 9-783758383205

Preis: 15,99 €, eBook 5,99 €

Leseprobe

Vorwort
24. Dezember 2013

 

Andächtig standen wir um das Lagerfeuer herum. Wir, das waren sechs Patientinnen und ich, der einzige Mann in dieser Gruppe, die in der psychosomatischen Klinik stationär untergebracht waren. Mit unterschiedlichen Themen und Diagnosen, aber alle mit schwierigen Geschichten. Ich war seit Anfang Dezember in der Klinik zur Traumabearbeitung, Aufarbeitung psychischer und körperlicher Gewalt über viele Jahre durch meine Pflegemutter.
Erstmals wurde ich im Jahre 2006 im Alter von sechsundvierzig Jahren von Panikattacken heimgesucht. Bereits damals hatte der Psychotherapeut erkannt, dass es sich um Folgen jahrelanger Gewalt in meiner Kindheit handelte. Ich aber wollte das nicht akzeptieren, denn schließlich lagen diese Ereignisse Jahrzehnte zurück. Ich hatte jeden Zusammenhang mit meiner Vergangenheit kategorisch ausgeschlossen und meine Kindheit allenfalls als schwierig bezeichnet. Stattdessen hatte ich die Ursache der psychischen Probleme in einer hohen Arbeitsbelastung gesehen, die mich in ein Burnout führte. Tatsächlich aber weigerte sich meine Seele, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen. So lange, bis ich es nicht mehr verdrängen konnte.
Nach und nach warfen die Mitpatientinnen Zettel ins Feuer, um irgendetwas, was sie beschäftigte und krank gemacht hatte, loszulassen. In der Hand hielt ich fast 400 eng beschriebene DIN A4-Blätter, um sie den Flammen zu übergeben. Etwas über ein Jahr hatte ich an der Autobiografie geschrieben, anfangs mit dem Ziel, diese zu veröffentlichen. Bis dahin hatte ich kaum einem Menschen von meinen Erfahrungen erzählt. Aber nachdem alles geschrieben war, fühlte sich eine Veröffentlichung falsch an.
»Warum wollen Sie das jetzt nicht mehr«, hatten mich die Therapeuten und die Gruppenmitglieder gefragt.
»Es fühlt sich falsch an, weil es eine Anklage ist. Die Autobiografie klagt meine leiblichen Eltern an, weil sie mich in ein Kinderheim gegeben haben. Sie klagt meine Pflegemutter an, und damit fühle ich mich als Opfer. Das aber bin ich nicht. Nicht mehr. Damals konnte ich nicht handeln, aber heute kann ich es. Und es klagt all diejenigen Menschen an, die weggesehen haben. Wenn ich also anklage, kann ich keinen Frieden damit schließen. Und das muss und will ich endlich!«
Blatt für Blatt übergab ich dem Feuer und sah zu, wie die Flammen gierig darüber herfielen. »Ich übergebe meine Geschichte dem Feuer, damit aus ihr etwas Neues entstehen und sich ein neues Leben entwickeln kann.«
Ich dachte an einen Waldbrand, der alles vernichtet, was sich dem Feuer in den Weg stellt. Und doch entwickelt sich aus einem solch gewaltigen Inferno nahrhafter Boden, aus dem mit der Zeit neue Pflanzen sprießen und Tieren Nahrung und ein Zuhause bietet. Ich hatte keine Ahnung, keine Vorstellung, wie in meinem Fall aus brennendem Papier neues Leben entstehen könnte. Es war nur ein Ritual, aber es gab mir Hoffnung, die Vergangenheit, die ich nun mal nicht ändern konnte, loslassen zu können.
Es dauerte eine Weile, bis die Idee gereift war, nicht nur meine Geschichte, sondern auch die meiner leiblichen Eltern zu erzählen. Einerseits half es mir, die Ereignisse angesichts der emotional kalten Zeit in den sechziger Jahren, und damit meine Eltern zu verstehen. Andererseits gab es mir das Gefühl, auch ihnen den Platz in meinem Leben zu geben, den sie verdienen. Beim Schreiben habe ich festgestellt, dass es mir schwerfiel, diese Ereignisse unter meinem Namen, also in Ich-Form zu erzählen. So kam es vor, dass mir schwindelig wurde, sich der Herzschlag beschleunigte oder mir der Schweiß auf der Stirn stand. Nach manchen Abschnitten machte ich ausgedehnte Spaziergänge, nach anderen wiederum fiel es mir schwer, alleine zu sein. Beim Schreiben brauchte ich einen inneren Abstand zu mir selbst. Also gab ich den Protagonisten andere Namen und erschuf mit Michael Kowalczyk, geborener Bachmann den Stellvertreter, der an meiner statt alles noch einmal erleben sollte.


I. Die Zeit der Ächtung (1959 bis 1962)
1959

»Herzlichen Glückwunsch, Frau Bachmann«, sagte der kleine dicke Arzt zu Maria. »Sie sind schwanger.« Er setzte sich nach der Untersuchung hinter seinen schweren, klobigen Holzschreibtisch und strahlte sie an.
Sie war eine schlanke junge Frau von einundzwanzig Jahren. Das schlichte Sommerkleid war etwas zu groß. Ihre langen schwarzen Haare lagen in Wellen auf ihren Schultern und wurden von einem grauen Stirnband davon abgehalten, in ihr Gesicht zu fallen. Sie sah den Arzt, der sie freundlich anlächelte, aus ihren klaren, grünen Augen schweigend an. Ihre Lippen bebten und die Hände in ihrem Schoss zerknüllten unaufhörlich ein Stofftaschentuch.
»In diesen schweren Zeiten brauchen wir stramme Jungs, die uns beim Wiederaufbau helfen«, fuhr der Arzt fort.
Es war Sommer 1959 und der Krieg 14 Jahre vorbei, doch die Spuren waren in Hamburg noch deutlich sichtbar.
»Da wird sich der Gatte sicherlich freuen.« Er musterte die junge Frau, die den Blick gesenkt hatte und tief Luft holte. Langsam verschränkte er die Arme vor der Brust. »Sie sind nicht verheiratet, oder?«
»Nein.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann wieder auf ihre Hände.
»Wissen Sie wenigstens, wer der Vater ist?«
Sie riss den Kopf hoch. »Natürlich weiß ich das – wo denken Sie hin? Was halten Sie von mir?«
Der Arzt schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich denke, dass Sie in diesen Zeiten, wo wir unser Land aufbauen und alle Kräfte mobilisieren müssen, nichts anderes im Sinn haben, als einen Bastard in die Welt zu setzen.« Er funkelte sie an. »Sehen Sie zu, dass Sie den Kerl heiraten, damit der Bastard wenigstens ehelich zur Welt kommt.« Obwohl seine Stimme fordernd war, klang eine Spur Mitgefühl mit.
»Ich weiß nicht, ob das geht. Paul ist erst achtzehn.«
Der Arzt lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schüttelte den Kopf. »Auch noch ein Minderjähriger. Der ist ja selber noch ein Kind. Wie heißt denn der Kerl?«
»Paul.«
»Das sagten Sie bereits. Und weiter?«
»Paul Kowalczyk.«
»Kowalczyk!« Der Arzt verdrehte die Augen. »Wo kommt der denn her?«
»Er ist aus Ostpreußen vertrieben worden und mit seiner Familie nach Hamburg geflohen«, antwortete sie. »Aber er hat Arbeit«, schob sie hinterher.
Das Gesicht des Arztes wurde etwas weicher. »Sie werden Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden, wenn Sie nicht verheiratet sind. Das wissen Sie doch wohl, oder?«
»Ja«, erwiderte sie.
»Sehen Sie zu, dass Sie heiraten. Sonst haben Sie einen sehr schweren Stand, und Ihr Bastard auch. Noch haben Sie etwas Zeit, solange man nicht sieht, dass Sie in Umständen sind.«
Maria betrachtete das zerknüllte Taschentuch in ihren Händen und schluckte. Der Arzt musterte sie nachdenklich.
»Na, nun schauen Sie mal nicht so betrübt. Das wird schon werden.« Er lächelte sie freundlich an und erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Maria stand ebenfalls auf und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Vielen Dank, Herr Doktor«, flüsterte sie.


Wie in Trance schlenderte sie an roten Backsteinhäusern vorbei, ohne sie zu registrieren. Den warmen Juniwind nahm sie nicht wahr und verlor sich in ihren Gedanken. Sie betrachtete ihre Füße, wie sie einen Schritt vor den anderen setzten. Ich bin schwanger, dachte sie. Ich bekomme ein Kind von einem Mann, den ich kaum kenne. Einerseits spürte sie das Glück einer werdenden Mutter, aber auf der anderen Seite wusste sie nicht, wie sie in diesen Zeiten ein Kind versorgen sollte. Wie würde Paul reagieren? Ich muss es ihm sagen. Heute Abend, wenn er mich besuchen kommt, sage ich es ihm.
Kinderstimmen weckten sie aus ihren Gedanken. Sie blieb stehen und sah sich um. Die Backsteinhäuser waren verschwunden und ihr Blick wanderte über eine verwilderte Wiese. Hier standen keine Häuser, und doch spielten hier Kinder. Die Sonne blendete sie und sie blinzelte in die Richtung, wo die Kinderstimmen herzukommen schienen. Sie fühlte sich magisch von ihnen angezogen. Das hohe Gras kitzelte an ihren Waden und sie musste sich vorsehen, um auf dem unebenen Boden nicht zu stolpern und mit dem Fuß umzuknicken. Sie stapfte an wilden mannshohen Büschen und Brombeersträuchern vorbei, als sie sich den Stimmen näherte. Auf einer kleinen Lichtung angelangt, sah sie vier Kinder, die Fangen spielten. Zwei Jungen und zwei Mädchen. Die Jungen trugen kurze Hosen und karierte Hemden, die Ärmel hochgekrempelt, und die Mädchen Kleidchen und Kniestrümpfe. Maria sah ihnen eine Weile beim Spielen zu. Als die Kinder sie erblickten, hielten sie inne und starrten sie an. Maria legte eine Hand auf ihren Bauch und lächelte. Der größere von den Jungen ging einen Schritt auf sie zu und blieb breitbeinig stehen.
»Was willst du hier?«, rief er und stemmte seine Fäuste in die Hüften.
»Ich … ich … ich weiß nicht«, stammelte sie.
»Hast du Bauchweh?«, fragte eines der Mädchen.
»Nein. Wie kommst du darauf?«
»Weil du dir den Bauch hältst.«
»Ach so ... nein.« Sie ließ den Arm sinken.
»Hast du dich verlaufen?«, fragte das andere Mädchen.
»Nein. Ich habe euch gehört und war nur neugierig, was ihr hier tut.«
»Wir wohnen hier.«
»Hier?« Maria sah sich um. »Ihr wohnt hier?«
»Ja, da drüben.« Das Mädchen deutete hinter sich. »Und da hinten wohnen noch mehr.«
Erst jetzt bemerkte Maria zwischen den Sträuchern eine kleine verfallene Hütte. Die Bretter waren notdürftig und schief zusammengenagelt, die Holztür hing in den Angeln. Neben dem Eingang stand eine Regentonne und um die Hütte herum rankten Dornensträucher. Als Maria einen Schritt auf die Hütte zuging, baute sich der größere Junge vor ihr auf.
»Du hast hier nichts verloren«, schrie er. Wütend funkelte er sie an.
Maria zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. »Nein. Natürlich nicht.«
Der Junge presste die Lippen fest aufeinander. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt, seine Arme zitterten.
»Wo sind eure Eltern?«, fragte sie.
»Mutti ist nicht da«, sagte ein Mädchen.
»Und euer Vater?«
»Abgehauen«, rief der Junge. »Und jetzt bin ich hier der Mann im Haus. Und ich sage dir: Verschwinde!«
Maria sah in zwei wütende Augen und legte wieder ihre Hand auf den Bauch. Dann eilte sie den Weg zurück, den sie gekommen war, achtete nicht mehr auf die Unebenheiten und die Dornensträucher. Sie drehte sich kein einziges Mal zu den Kindern um, die ihr schweigend hinterherblickten.